Sehr geehrter Herr Brenner,
hiermit stellen wir den Antrag auf Erstellung einer Leitlinie für informelle Bürgerbeteiligung in der Stadt Gerlingen. Methoden und Umfang informeller Bürgerbeteiligung sind im Gegensatz zu formellen Beteiligungsverfahren nicht vorgeschrieben, so dass wir die Erstellung einer Leitlinie für die Umsetzung in Gerlingen für notwendig halten.
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Städten, die entsprechende Leitlinien beschlossen haben, zuletzt im April 2017 die Landeshauptstadt Stuttgart. Ebenso hat der Deutsche Städtetag zu diesem Thema Thesen zur Weiterentwicklung lokaler Demokratie verabschiedet und ausgezeichnete Informationen finden sich im Netzwerk Bürgerbeteiligung und im Wegweiser Bürgergesellschaft.
Begründung
In unserer parlamentarischen Demokratie hat sich eine Vertrauenslücke aufgetan zwischen den Repräsentierten und den politischen Repräsentanten in den Parlamenten und den Verwaltungen. Die Wahlbeteiligungen gehen zurück und in gleichem Maße nehmen Misstrauen und Proteste gegen Planungen und Entscheidungen von Politik und Verwaltung zu. Doch Bürger können mehr als wählen, abstimmen oder protestieren. Sie verfügen über vielfältige Kompetenzen der unterschiedlichsten Art. Wenn Planungen und Entscheidungen zugute kommt, was Bürger können und wissen, schrumpft die Vertrauenslücke und die Ergebnisse können besser werden.
Bürger sollen nicht selbst an die Stelle von Entscheidern treten, doch sie können Mitverantwortung übernehmen. Bürgerschaftliche Mitverantwortung erfordert jedoch eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen Bürgern, Verwaltung und politischen Entscheidern im Prozess der Entscheidungsvorbereitung. Hier müssen Politik und Verwaltung ein völlig neues, qualitativ höheres Maß an Offenheit aufbringen.
Diese Art bürgerschaftlicher Mitverantwortung braucht , um reale Wirkung zu haben und ernst genommen zu werden, klare Grundsätze und Verfahrensregeln.
In den Thesen des Deutschen Städtetages zur Weiterentwicklung lokaler Demokratie heißt es u.a.:
· Die bewährten Formen der repräsentativen Demokratie vor Ort und direktdemokratische Formen der Bürgerbeteiligung müssen in eine ergänzende Beziehung zueinander gebracht werden
· Eine umfassende - formelle wir informelle – Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Planungsprozessen und anderen kommunalpolitischen Entscheidungen ist geeignet, deren Qualität und Akzeptanz entscheidend zu verbessern. Beteiligung der Bürgerinnen und Bürgern muss von Rat und Verwaltung als Chance verstanden werden.
Bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden geht es in der Regel nur darum, ohne Bürgerbeteiligung getroffene Entscheidungen nachträglich zu korrigieren oder abzustoppen. „Faktisch geht es hierbei nicht um Mitwirkung, sondern um Widerstandsausübung. Es wird dabei ein Konfliktfeld zwischen Bürger/innen und Kommune, aber auch zwischen Bürger/innen und Bürger/innen aufgespannt, da letztere nur die Wahl haben, pro oder contra, d.h. also gegensätzlich zu optieren, so dass sie sich unversehens in krasser Konfrontation gegenüberstehen“ , so Helmut Klages in „Entwicklungsperspektiven der Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene“.
Eine Bürgerbeteiligung dagegen belebt und bereichert die repräsentative Demokratie, indem sie allen Akteuren eine Stimme gibt und die Möglichkeit zur Mitgestaltung bietet. Auch in Gerlingen haben die Menschen vermehrt Interesse daran, die eigenen Lebensbedingungen aktiv mit zu gestalten. Das Prinzip der „Bürgerbeteiligung“ kennzeichnet für Viele den Weg der Weiterentwicklung der Demokratie.
Der entscheidend neue Grundsatz ist, dass Beteiligung keine „Holschuld“ der Bürger/innen, sondern eine „Bringschuld“ der Kommune ist, welche ihre Vorhaben für die Bürger/innen öffnet.
In diesem Zusammenhang ist als erstes Kernelement der Begriff der „Vorhabenliste“ entwickelt worden. Dabei geht es um Vorhaben der Kommune, die „viele Menschen betreffen“, die „Symbolbedeutung haben“, „hohen öffentlichen Finanzbedarf erfordern“ und/oder einen „wesentlichen Umwelteingriff bedeuten bzw. die „Wohnsituation betreffen“, also um Projekte, die Bedeutung für den öffentlichen Raum haben und dem Gemeinwohl der Bürgerinnen und Bürger dienen .
In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich die Idee des „Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes“ des Stadtbauamtes und sehen unseren Antrag als eine notwendige Ergänzung und Unterstützung für die Umsetzung (ggf. in Form einer Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Verwaltung und Gemeinderat).
Das zweite Kernelement ist die Entwicklung von verbindlichen Kriterien für die Vorbereitung und Durchführung von Bürgerbeteiligung, u.a.:
· für welche Projekte sind Beteiligungsverfahren zwingend erforderlich
· ab wann beginnen sie
· welche Verfahren sind wann zu wählen
· wie sind die Ergebnisse in Verwaltungshandeln und politische Entscheidungen rückzukoppeln
· wie kann die Beteiligung bei lang andauernden Prozessen sichergestellt werden.
Die vom Gemeinderat der Stadt Stuttgart am 6. April 2017 beschlossenen Leitlinien für informelle Bürgerbeteiligung beinhalten folgende Ziele, die alle für Gerlingen übertragbar sind:
· Gewinnung von neuen Ideen und Aufzeigen von Handlungsalternativen durch die Einbringung unterschiedlicher Sichtweisen, zusätzlicher Anregungen und Bedenken der Einwohnerinnen und Einwohner
· Bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für Einwohnerinnen und Einwohner an der Entwicklung des eigenen Lebensumfelds und des Gemeinwesens
· Verständigung bei voneinander abweichenden Auffassungen
· Höhere Transparenz der Informationen und Abläufe und damit eine bessere Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen sowie eine Förderung des Verständnisses für ein Vorhaben
· Förderung des gegenseitigen Vertrauens und der Kompromissbereitschaft zwischen und innerhalb der Einwohnerschaft, der Politik und Verwaltung
· Förderung des Interesses an der eigenen Stadtpolitik und am bürgerschaftlichen Engagement
· Förderung der Identifikation mit der Stadtgesellschaft
· Verbesserung der Planung und gegebenenfalls Beschleunigung der Umsetzung eines Vorhabens
· Verbesserung der Nachhaltigkeit städtischer Projekte und ihrer Akzeptanz in der Einwohnerschaft
· Ansprache und Aktivierung von Einwohnerinnen und Einwohnern, die bisher nicht an Beteiligungsangeboten interessiert waren
Es gehört jedoch eindeutig zu den unumstößlichen Grundsätzen aller Beteiligungsformen, dass die Letztentscheidungskompetenz den gewählten Repräsentanten zusteht und durch die Beteiligungsrechte der Bürger/innen nicht infrage gestellt werden. Die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung sind aber von Gemeinderat und Verwaltung im Rahmen einer Selbstverpflichtung angemessen zu würdigen und in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Stegmaier Dr. Ewald Bischoff Rolf Schneider
Bündnis 90 / Die Grünen Fraktion im Gerlinger Gemeinderat
Eingebracht: 21.05.2017
Beraten: 04.07.2017 Gemeinderat
Entscheidung: weitergeleitet an Ältestenrat