Die krumme Gurke ist und bleibt ein Topos der EU-Politik. Auch das hat sich kürzlich im Rathaus bei der von Stadträtin Ulrike Stegmaier moderierten Diskussion zur Europapolitik gezeigt, für die sich rund 80 Besucher interessierten. Sven Giegold, Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament, und Anna Deparnay-Grunenberg, Stuttgarter Stadträtin und Kandidatin fürs Europaparlament, waren gekommen, um sich für Europa stark zu machen.
Gerecht umsteuern
Niemand behauptet, dass die EU, so wie sie ist, perfekt ist. Auch nicht Sven Giegold, dessen Vortragsthema „Gerecht umsteuern – so geht Europa“ lautet. Der Obmann der grünen Fraktion im Ausschuss für Wirtschafts- und Finanzpolitik zeigt sich rundum glänzend informiert. Mit „Herzlich willkommen, Exzellenzen“, kürzt er den bei solchen Veranstaltungen oft langatmigen Grußmarathon humorvoll ab - und redet fortan druckreif.
Seit fünf Jahren beobachte er, dass Europagegner die Union zerstören wollten. Doch für ihn und seine Partei ist die Rückkehr zum Nationalstaat keine Alternative. Die Probleme der modernen Welt, ist Giegold überzeugt, seien nur gemeinsam zu lösen: Klimawandel, Digitalisierung, Steuergerechtigkeit, eine humane Asylpolitik bis hin zur Frage von Krieg oder Frieden.
Arten- und Demokratieschutz
Viele übersähen, was Europa schon geschafft habe, etwa beim Schutz von gefährdeten Arten und Landschaften. Hielten die europäischen Gesetze nicht ihre schützende Hand über den letzten Urwald in Europa, den Bialowieza Nationalpark in Polen, würde der heute anders aussehen. Ähnliches gilt für einen Antrag der EU-Kommission, dem der Europäische Gerichtshof stattgegeben hat, weswegen Polen vorerst keine Richter des Obersten Gerichts mehr in den Zwangsruhestand versetzen darf.
Volkssport Steuervermeidung
Dank EU-Gesetzen hätten Menschen mit Handicap bessere Chancen, junge Leute könnten problemlos im Ausland studieren und auch beim Thema Gleichberechtigung habe man viel erreicht. Am erfolgreichsten bekämpfe Europa derzeit aber Steuervermeidung und Steuerflucht. „In Baden-Württemberg war das ja ein weit verbreiteter Volkssport“, so Giegold, heute flössen die Informationen grenzüberschreitend.
Viel zu tun gibt es dennoch: Die Stichworte Digitalsteuer, Migration, Bekämpfung von Fluchtursachen, lange Verfahren, Waffenexporte nahm Giegold sich vor, aber auch die Cum-Ex-Geschäfte, hinter denen sich, ganz vereinfacht gesagt, Aktiendeals verbergen, die es Anlegern ermöglichen, sich Kapitalertragsteuern erstatten zu lassen, die gar nicht gezahlt wurden. Der Schaden für deutsche Finanzämter beläuft sich auf mehr als 30 Milliarden Euro. Giegold verweist auf eine Ende November geplante Plenarresolution: „Ich will, dass das systematisch untersucht wird!“ Er fordert ein Unternehmensstrafrecht und klare Aussagen von Friedrich Merz. „Er muss uns erklären, ob er über Blackrock an Ex-Cum-Geschäften beteiligt war.“
Auch die EU kann besser werden
Aber auch in der EU-Politik selbst gibt es Verbesserungspotenzial: „Dass Deutschland bei der Luftreinhaltung oder der Energieeffizienz vorangetrieben werden muss, ist peinlich“, findet Giegold. Auch dass Frankreich mit Deutschland eine engere Partnerschaft eingehen will, Deutschland sich aber ziere, kann er nicht nachvollziehen. Und noch ein Problem sehen beide Politiker: Was im Europaparlament passiert, ist den Bürgern zu wenig bekannt.
Europa kann mehr
Ein Kind mit polnischem Vater und lettischer Mutter, das in Belgien aufwächst und dort in die internationale Schule geht, warum nicht? Jeder kennt heute Menschen, die mehrsprachig aufwachsen und daraus im Leben Vorteile ziehen. Nicht nur im Erwerbsleben - ohnehin zielt nicht jeder für seine Kinder auf größtmögliche Industrietauglichkeit und breite Ellbogen. Vielmehr geht es um Offenheit für andere Kulturen, den Abbau von Vorurteilen nach dem Motto „die Franzosen“, „die Italiener“, um interkulturelle Kompetenz, die wir schon deshalb brauchen, weil wir doch alle ganz gerne reisen.
Drei Pässe – warum nicht?
Im zweiten Teil der Veranstaltung steht die Forst- und Umwelt-Wissenschaftlerin Anna Deparnay-Grunenberg im Fokus.
Die Wahlstuttgarterin mit drei Pässen -einem deutschen, französischen und schweizerischen - nennt sich selbst „ein europäisches Produkt“. 1976 in Berlin geboren, ist sie in Frankreich aufgewachsen mit einer französischen Mutter und einem Deutschschweizer Vater. Deparnay-Grunenberg hat in Freiburg und Vancouver Forst- und Umweltwissenschaften studiert, ist seit 2009 in Stuttgart Stadträtin der Grünen und seit 2014 Fraktionsvorsitzende.
Ethisches Wirtschaften bevorzugt
Nun zieht es sie ins Europaparlament, wo sie gerne Kommunal- und Europapolitik besser verzahnen würde. Europa ist für Deparnay-Grunenberg das „größte Friedensprojekt, das es je gab, und sie betrachtet die deutsch-französische Freundschaft als einen der wichtigsten Schlüssel. Für die Forstwissenschaftlerin ist der Wald, Sauerstoff und Holzlieferant, ein gutes Beispiel dafür, dass Ökologie und Ökonomie sich nicht ausschließen müssen – dazu kommt die wichtige Funktion des Waldes als Erholungsraum.
Überhaupt hält die Stadträtin viel von ethischem Wirtschaften und macht sich stark für die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ),ein Wirtschaftssystem, für das die Stichworte Nachhaltigkeit, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Menschenwürde stehen. In Stuttgart haben zwei städtische Unternehmen sich GWÖ-bilanzieren lassen. Ethisches Wirtschaften könne sich in vielen kleinen Dingen zeigen: dass Flüchtlinge angestellt, ökologische Putzmittel verwendet oder eine firmeneigene Kita eingerichtet wird.
Mehr als gerade Gurken
In der Diskussion mit beiden Rednern wird noch vieles angesprochen, etwa Waffenexporte, Niedrigzinspolitik, Lobbykratie und mehr. Auch Deparnay-Grunenberg betont, dass zu wenig bekannt sei, wie viele gute Projekte Europa co-finanziere und steuere. „Wir kämen bei der Luftreinhaltung in Stuttgart ohne die strengen EU-Vorgaben gar nicht weiter“, sagt sie, merkt aber zugleich, wenn sie an Infoständen steht, „dass die Leute immer noch von der krummen Gurke reden.“
Sven Giegold pflichtet ihr bei, betont aber, dass nicht Lobbyisten die Verantwortung für Entscheidungen trügen, sondern die gewählten Politiker: „Wir veröffentlichen Abstimmungsdokumente; wenn Sie also wissen wollen, wer gegen die CO2-Regel gestimmt hat, schauen Sie nach!“ Wer immer informiert sein möchte, kann sich auch für Giegolds Newsletter anmelden: https://sven-giegold.de/newsletter-anmeldung/
Unser Fazit: zwei kompetente und engagierte Experten, authentisch und bürgernah. Ein interessiertes Publikum, das die Chance für Rückfragen nutzte und umfassende Antworten erhielt. Ein weiteres Highlight unserer Veranstaltungen, in denen wir immer Wert auf Vielfältigkeit und den Blick über den Tellerrand hinaus legen. Auch für 2019 haben wir schon viele Ideen!
(bär)